Samstag, 29. September 2007

"Da steht ein Pferd auf'm Flur..."

In Eagle Butte und drum herum gibt es kein Kino, kein Theater, keine Disco, keine Musikkneipe, keinen Jugendtreff und ein Schwimmbad, das nur in den Sommermonaten geöffnet hat. Kurzum: Hier herrscht tote Hose. Für die Bewohner Eagle Buttes bedeutet dies eine Katastrophe, für mich einen vorübergehenden Zustand nüchterner Enthaltsamkeit. Doch für die Tatsache, dass hier absolut gar nichts geboten wird, erlebe ich seltsamerweise mehr Abenteuer und Ungeheuerliches als jemals in meinem Leben zuvor! Erst gestern Abend noch ist mir erneut die Kinnlade auf die Brust gedonnert. Ich habe mich schon zweifelnd gefragt, ob ich Euch nach der Welpen- und Billy-Mills-Story hier überhaupt noch etwas Interessantes bieten kann. Aber anscheinend muss man im Reservat ständig auf Überraschungen gefasst sein. Unverhofft kommt oft, besonders dann, wenn man gar nicht damit rechnet.

So wie gestern. Es war einer dieser Tage, an denen ich am liebsten unsichtbar und taubstumm wäre. Ich war die halbe Woche krank, hatte schlecht geschlafen und dennoch wie gewohnt gearbeitet. Die Risiken und Nebenwirkungen machen sich dann spätestens freitags bemerkbar: gebeugte Haltung, Schlafzimmerblick, Augenringe wie Karl Dall und eine innere Unausgeglichenheit, die dich zum Griesgram des Jahres machen. Zu allem Überfluss konnte ich nach Ladenschluss nicht direkt mit Putzen beginnen, da ich noch eine halbe Stunde lang Kinder von Dreckhügeln runterjagen musste (bei uns vor der Tür ist momentan eine große Baustelle), einen Zickenkrieg schlichten und ein Mädchen aus einer großen Mülltonne befreien musste, in die ich Stunden zuvor noch verfaulte Kartoffel geworfen hatte. Doch irgendwann war er da, mein Freund der Feierabend! Und was macht man nach einem so grässlichen Tag? Man flüchtet aus dem Main, und zwar zu Rockys Familie und zu Wokini.
Als ich deren Haus betrat, befand sich ein Pferd im Wohnzimmer. (Bitte den vorherigen Satz noch einmal lesen.) (Ja, da steht wirklich „ein Pferd im Wohnzimmer“!) Naja, ein Pferd ist wahrscheinlich ein wenig übertrieben. Vielmehr war es ein zwei Wochen altes Fohlen. Es stammt aus einer wildlebenden Mustangherde, die ohne das Kleine weiter gezogen war.

Rückblick: Vor einigen Wochen besuchten wir wilde Mustangs, die von einer Frau namens Karen betreut werden. Sie setzt sich schon seit vielen Jahren für die Erhaltung dieser edlen Tiere ein, die ansonsten vom Staat unbarmherzig getötet würden. Karens Herden sind direkte Nachkommen derjenigen Pferde, die im 16. Jahrhundert durch die Spanier eingeführt wurden. Die Prärie-Indianer hatten bis dato noch nie ein Pferd gesehen und nannten diese Tiere deshalb „großer Hund“. Die Ankunft der spanischen Pferde machte den Lebensstil der Nomadenkulturen in den Plains fortan erheblich komfortabler und ließ sie zu den berühmten Büffeljägern werden, die heute jedermann aus Film und Fernsehen kennt.

Rocky hat schon öfter Babysitter für verwaiste Fohlen aus Karens Herden gespielt. Da es sich diesmal niemand zeitlich leisten konnte, die Nächte bei Karen zu verbringen, hat man das Fohlen kurzerhand zu sich nach Hause geholt. So kam es dazu, dass Wokini nun einen neuen Spielkameraden hat. Und es ist ein Bild für die Götter: ein schlaksiges Fohlen mitten im Wohnzimmer zwischen Sofa und Fernseher! Es muss – wie Wokini anfangs – alle zwei Stunden mit Milch gefüttert werden und braucht zudem jede Mende Aufmerksamkeit.

Echt ulkig: Jetzt ist der Welpe aus dem Gröbsten raus und ist nicht mehr auf Flüssignahrung angewiesen, da kommt das nächste Tierbaby ins Haus. Langweilig wird es einem hier anscheinend nie... :-)


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