Dienstag, 23. Oktober 2007

Heiliges Land der Lakota #1: Die Black Hills

An meinem ersten Wochenende in South Dakota hatte ich das Vergnügen, die Black Hills zu besuchen. Ich möchte Euch meine Eindrücke dieser so unbeschreiblich schönen Gegend nicht vorenthalten und nehme Euch nun mit auf eine Reise durch das heilige Land der Lakota.
Ich, ausnahmsweise mal ganz groß

Wenn sich Touristen mal nach South Dakota verirren sollten, so zieht es sie meist direkt in den Südwesten des Staates, wo die Badlands und die Black Hills beheimatet sind - zwei der dramatischsten, geheimnisvollsten und Legenden umwobensten Landschaften in den USA. Für die Weißen rufen sie Erinnerungen hervor an die Eroberung des amerkansichen Westens, während sie für Indianer einen hochgradig spirituellen Ort darstellen. Für viele Sioux-Generationen war und ist der Wert der Black Hills unermesslich. Die Berge werden als das Herz von allem Existenten angesehen. Sie sind die Heimat vieler Geister und stellen einen spirituellen Ort der Sicherheit dar. Krieger zogen sich in die heilige Berge zurück, um dort zu Wakan Tanka, dem großen Geist, zu beten und um Visionen zu empfangen.

Die Fichten und norwegischen Kiefern, die die Black Hills bedecken, erscheinen nur aus der Ferne schwarz.

Mitte des 19. Jahrhunderts verfasste die amerikanische Regierung einen Vertrag, der die Black Hills und den größten Teil des Landes westlich des Missouri Rivers den Indianern übertrug, da man in dieser Gegend keinerlei Nutzen entdecken konnte. Dies änderte sich jedoch schlagartig, als dort im folgenden Jahrhundert Gold gefunden wurde und sich somit der indianische Garten Eden in ein El Dorado für Forscher und Goldsucher verwandelte. Wie so oft in der amerikanisch-indianischen Geschichte wurde auch hier ein Vertrag gebrochen, doch die Strategie ist diesmal besonders hinterhältig: Im Jahre 1890 forderte der amerikanische Gerichtshof die Regierung auf, den Sioux 150 Millionen Dollar zu zahlen, und zwar als Ausgleich für deren illegale Aneignung des Landes im Jahre 1877. Nach einer hitzigen Debatte unter den indianischen Führern wurde dieses Angebot jedoch abgelehnt. Der Streit zwischen der US-Regierung und den Sioux um die Black Hills hält noch immer an und stellt ein trauriges Beispiel dar für die weiße Definition von Erbe und Versprechen.


"Our people knew there was yellow metal in little chunks up there, but they did not bother with it, because it was not good for anything." (BLACK ELK, heiliger Mann der Oglala Sioux)

In den Black Hills entstand auch ein Teil von Kevin Costners "Der mit dem Wolf tanzt". Der Schauspieler und Regisseur machte sich jedoch bei den Lakota äußerst unbeliebt, als er plante, einen Golfplatz in den Black Hills zu eröffnen. (Tamaras Freund Douglas und dessen Bruder spielten übrigens als Komparsen im Film mit und berichten, dass Costner die indianischen Schauspieler mit wenig Respekt behandelt habe.)
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Mount Rushmore Memorial

Im Jahre 1923 kamen der amerkanische Geschichts-wissenschaftler Doane Robinson und der Bildhauer Gutzon Borglum auf die verrückte Idee, einen der riesigen Granitfinger der Black Hills in ein imposantes, patriotisches Kunstwerk zu verwandeln. Dafür wählte Borglum einen Berg aus, der nach dem New Yorker Rechts-anwalt Charles E. Rushmore benannt ist, und auf dem man heute die vier Köpfe namhafter amerikanischer Präsidenten bewundern kann: George Washington, Thomas Jefferson, Abraham Lincoln und Borglums Freund Theodore Roosevelt.
Borglum war 60, als er 1927 das gigantische Projekt begann. Vierzehn Jahre später starb er. Zurück blieben ein noch nicht vollendeter Roosevelt und 200.000 Dollar Schulden. Erst sechseinhalb Jahre später, im Jahre 1939, wurde das Monument vollendet, mit einem Gesamtwert von 993.000 Dollar.

Ein Motiv, das man aus dem Film "Powwow Highway" kennt.


Crazy Horse Memorial
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Es war einmal ein Sioux-Häuptling namens Henry Standing Bear, der eines Tages von einem wahnsinnig großen und wahnsinnig amerikanischen Denkmal namens Mount Rushmore erfuhr. Man kann sich in etwa vorstellen, was in dem Kopf eines Indianers vorgeht, in dessen heiliges Land soeben vier Köpfe amerikanischer Präsidenten überdimensional groß in Stein gemeißelt worden sind. Dieser Häuptling wendete sich daraufhin kurzerhand mit den folgenden Worten an den Bildhauer Korczak Ziolkowski: "My fellow chiefs and I would like the white man to know the red man has great heroes, too." Mit seinem Brief lädt Standing Bear den Neuengländer in die Black Hills ein, um dort ein Denkmal für Crazy Horse zu meißeln, dem wohl berühmtesten aller Lakota-Indianer, der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in den Black Hills geboren wurde. Bevor Ziolkowski jedoch zusagt, setzt er sich zunächst intensiv mit der Geschichte des berühmten Kriegers auseinander. Fasziniert von dessen Leben und Taten und ganze sieben Jahre später beschließt Zielkowski, sein Denkmal zum größten Monument der Welt zu machen. Dazu gibt er sein bisheriges Leben komplett auf und zieht in die Black Hills. Der Berg Thunderhead Mountain soll von nun an Korczaks Arbeitsplatz und Heimat zugleich sein. Er schläft am Fuße des Berges in einer kleinen Hütte und steigt mehrmals täglich die 741 Stufen zum Gipfel hinauf, um sich dort seinem Lebenswerk hinzugeben: Ein steirnernes Monument von Crazy Horse, der auf dem Pferderücken sitzt und mit seiner linken Hand in die Wälder der Black Hills zeigt: “My lands are where my dead lie burried.”

Bis zu seinem Tod im Jahre 1982 opferte Zielkowski den Rest seines bescheiden-en Lebens vollkommen für sein gigantisches Werk auf. Er begann mit fast 40 Jahren und einem Vermögen von nur 174 Dollar. An der Eröffnungsfeier nahmen fünf der neun Indianer teil, die die Schlacht am Little Bighorn überlebt hatten. Der atemberaubende Kopf des Kriegers aus Stein wurde rechtzeitig zum 50-jährigen Jubiläum 1998 fertig gestellt – und es könnte noch gut weitere 50 Jahre dauern, bis das Denkmal vollendet sein wird. Wie so oft fehlt es nämlich auch hier an finanziellen Mitteln. Zielkowski selbst hat insgesamt 4 Millionen Dollar aufgetrieben und ausgegeben. Er weigerte sich stets, staatliche Unterstützung anzunehmen und verließ sich stattdessen ausschließlich auf Eintrittsgelder und private Spenden. Er lehnte sogar 10 Millionen Dollar vom Staat ab, da er der Ansicht war, dass die Regierung nach all den gebrochenen Verträgen mit den Sioux kein Recht dazu hätte, sich in diese Angelegenheit einzumischen.
Wenn man heute auf der Aussichtsplattform steht, mag man es kaum glauben, dass das steinerne Monument mehr als 1 km entfernt ist, und dass das weiße, 6 m hohe Modell vierunddreißig mal kleiner ist als das geplante Endresultat, welches 172 m hoch und 195 m lang sein wird! Alle vier Präsidentenköpfe des Mount Rushmore passen in Crazy Horses Kopf!



Die Arbeit hat mit Zielkowskis Tod keinesfalls aufgehört. Seine Witwe, seine Kinder und seine Enkelkinder bemühen sich nun an seiner Stelle, seinen Traum zu verwirklichen und somit dem weißen Mann vor Augen zu halten, dass auch die Indianer (im wahrsten Sinne des Wortes:) große Helden haben.

Für mehr Informationen, gehe zu: http://www.crazyhorse.org/

Samstag, 20. Oktober 2007

Moderne Krieger

(Das Folgende ist nicht bestimmt für besorgte Freunde und vor allen Dingen nicht für meine Eltern!!!)

Eben sind Ben und ich zu Fuß ins LTM gegangen, um unseren erbärmlich dreinschauenden Kühlschrank zu füttern. Auf dem Weg dorthin begegneten wir einigen Jugendlichen auf einer bewohnten Straße. Ein Junge, vielleicht 18, 19 Jahre alt, entdeckte uns und verwickelte uns prompt in ein Gespräch. Es war pure Neugier, die ihn dazu bewegte. In Eagle Butte ist circa 20 % der Bevölkerung weiß, sodass wir zwar ein seltenes, aber nicht wirklich ungewöhnliches Paar abgegeben haben. Was uns jedoch interessant für ihn machte, war die Tatsache, dass wir a) zu Fuß unterwegs waren (hier legt jeder die noch so kleinste Distanz mit dem PKW zurück) und uns b) in einer Gegend aufhielten, in der überwiegend Indianer leben.
However, der Typ war mächtig erfreut, uns beide kennen zu lernen, und wollte wissen, wo wir herkommen und warum wir uns um diese Zeit noch auf der Straße aufhielten. Die meiste Zeit jedoch sprach er von sich selbst und erklärte uns stolz, dass er Vollblutindianer und Gangster sei. Zudem würde er eine Knarre bei sich tragen. Nachdem Ben und ich auf diesen scheinbaren Scherz hin ein gespieltes und wahrscheinlich sehr dämliches Lachen von uns gegeben hatten, hob der Kerl sein T-Shirt hoch und entblößte eine waschechte Pistole, die in seinem Hosenbund steckte. (Mama, Papa, ich hab doch gesagt, Ihr sollt NICHT weiter lesen!!) Er lachte über unsere verdutzten Gesichter und entschuldigte sich. Er hätte uns nicht erschrecken wollen. Jeder trage hier ne Knarre, alles zum Selbstschutz. Er würde uns nichts antun, im Gegenteil: Wenn wir Hilfe bräuchte, wäre er für uns da. Soso.
In Deutschland wäre ich wahrscheinlich schreiend davon gelaufen, wenn mir vorm REWE ein Fremder stolz sein Wumme präsentiert hätte. Aber wir sind hier im Amiland, und – most of all – in einem Indianerreservat! Hier trägt tatsächlich fast jeder eine Pistole bei sich. Der Typ gehört wahrscheinlich zu einer der beiden Gangs hier im Rez. Ich konnte nicht erkennen ob rot oder blau. Jedenfalls haben die Teens hier nicht viel zu tun, von daher ist es eine richtige Modeerscheinung, ein Crip oder Blood zu sein und dies auch raushängen zu lassen. Die gegnerische Gang wird mit Freude bekämpft, und falls kein Gegner in Sichtweite ist, pöbelt man in Situationen von Langeweile halt andere unschuldige Leute an. Daher war es recht ungewöhnlich, von einem Gangmitglied mit soviel Respekt behandelt zu werden.

Versteht mich nicht falsch. Ich mache mich hiermit keinesfalls lustig über die gegebene Situation, und ich bin auch lange nicht so naiv, wie es wahrscheinlich den Anschein macht. Doch wenn man eine Zeit lang im Reservat gelebt hat, versteht man bald die Regeln und kann leicht einschätzen, wann eine Situation normal ist und wann es Zeit wird, sich in die Hosen zu machen. Und hier ist vieles gewöhnlich, was in Deutschland nach den Cops schreien würde! Man gewöhnt sich eben an alles.

Mittwoch, 17. Oktober 2007

Rückblick #2: . . . . z e i t l o s . . . .

Die Hälfte meines Aufenthaltes im Reservat liegt nun hinter mir. Ich kann es kaum glauben. Noch nie in meinem Leben ist die Zeit so schnell vorüber gegangen wie hier. Und dabei lebe ich absolut zeitverpeilt. Ich weiß im Grunde nie, welchen Tag des Monats wir gerade haben. Das ist gefährlich: Denn in Deutschland gibt es immerhin viele liebe Menschen, die zwischen August und Dezember Geburtstag haben! Hinzu kommt die so genannte „Indian Time“: Wenn ein Indianer um 12 Uhr mittags zum Essen einlädt, kann es gut sein, dass um 14 Uhr erst der Tisch gedeckt wird. So läuft es hier ständig: Immer mit der Ruhe, alles mit der Zeit. Trifft man sich also zum Dinner oder Pokern, dann wird dann offiziell begonnen, bis alle eingetroffen sind oder bis alles fertig ist. Und das ist im Grunde nie zur vereinbarten Zeit (wenn überhaupt eine Zeit vereinbart worden ist). Für mich ist das der beste Platz auf Erden, da ich ein Mensch bin, der ständig zu spät ist. Ich liebe die Indian Time! Zum Verhängnis wird es für mich wohl erst, wenn ich wieder nach Hause komme…
Es ist seltsam: Die erste Hälfte kommt mir zurückblickend wie eine Ewigkeit vor. Wenn ich jedoch an meine Rückreise denke, habe ich das Gefühl, dass diese schon sehr bald ist. Kann es eigentlich sein, dass mein erster Rückblick im Blog einen sanften Hauch von Heimweh andeutet? Der ist jedenfalls schneller als der Wind verflogen (was für eine Metapher!), und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Ich fühle mich endlich zu Hause. Das habe ich hauptsächlich Rockys Familie zu verdanken, die mit der Zeit auch meine Familie geworden ist. Ich gehe dort ein und aus und bin nun ein weiteres Familienmitglied der großen Familie. Wir reden schon jetzt von dem nahenden Abschied, der uns allen wahrscheinlich sehr wehtun wird. Rocky Mutter möchte, dass ich bleibe und hier mit ihnen lebe. Wenn mir also in Deutschland eines Tages mal die Decke auf den Kopf fallen sollte, und zwar so richtig, dann weiß ich, wohin ich fliehen kann. Irgendwie ein beruhigender Gedanke.

Auch die Arbeit mit den Kindern ist anders. Ich kenne sie und sie kennen mich, und auf beiden Seiten hat sich großer Respekt aufgebaut, der jedoch schwer erkämpft werden musste. Die „Angst“ vor der Arbeit mit den Kindern (Wird es ein guter Tag? Werden die Kids sich benehmen? Werde ich die Nerven behalten?) ist einer Zuversicht und einem Selbstvertrauen gewichen, das ich mir niemals zugetraut hätte. Ich habe viele Kinder richtig lieben gelernt und freue mich jedes Mal, sie zu sehen. Dennoch ist die Arbeit weiterhin verdammt hart und Kräfte zehrend. Je näher das Wochenende rückt, desto ausgelaugter werde ich. So kommt es, dass ich freitags und samstags zu einem schlürfenden Wasch-lappen mutiere, dessen Lieblingsbeschäftigung darin besteht, alle fünf Minuten auf die Uhr zu schauen. Man ist gereizt und völlig erschöpft und betrachtet die Kinder nicht mehr als Opfer, sondern als kleine Monster, die nur ins Main kommen, um Dich fertig zu machen. Die Anzahl der Kids hat sich zudem während der letzten Wochen auf durchschnittlich 40 Kinder pro Tag verdoppelt. Wir scheinen unseren Job also gut zu machen :-)
Nächste Woche starten wir zusätzlich unser Programm für die Jugendlichen (13 - 18 Jahre) und werden fortan freitags Teen Nights im Teen Center anbieten. Von 16 bis 19 Uhr ist die Turnhalle für den indianischen Volkssport Basketball geöffnet, und anschließend können die Teens sich aussuchen, ob sie auf großer Leinwand einen Film in der Turnhalle anschauen oder lieber im Internet Café Tischtennis und Kicker spielen und im Internet surfen wollen. Ich hoffe, dass viele junge Leute diese Chance nutzen und somit wenigstens einmal pro Woche Gangs, Angst und Langeweile vergessen.

Mittlerweile sind von den ursprünglichen Volontären nur noch Kristina und ich übrig. Anfang September kam Ben, 32, aus London, und Anfang Oktober ein 18-jähriges Mädchen aus Pennsylvania. Wir sind ein tolles Team, ergänzen uns prima und halten uns gegenseitig den Kopf über Wasser. Zudem erweist es sich als absolut praktisch und famos, eine reife, männliche Autoritätsperson im Hause zu haben, die ständig unter Starkstrom steht und zudem regelmäßig für uns kocht und backt.

Happy News:
- Das Heizsystem funktioniert wieder! bedeutet: die Warmduscher müssen zum Duschen nun nicht mehr ins Teen Center! und bedeutet auch: zum Spülen brauch man keine sieben Töpfe Wasser mehr zu kochen, sondern dreht lediglich den Wasserhahn mit dem roten Punkt drauf auf! (Hier lernt man Dinge zu schätzen, die in der Heimat eine Selbstverständlichkeit sind…)
- Da die Gartensaison und somit auch unser täglicher Farmer’s Market vorbei sind, brauchen wir erst um 11 Uhr statt um 10 Uhr anfangen zu arbeiten! bedeutet: mehr Zeit am Morgen! bedeutet: allmorgendlicher Besuch im Fitness Center! bedeutet: Bens anbetungswürdiger Kuchen kann mit gutem Gewissen verzehrt werden!
- Unsere Chefin hat uns einen neuen Fernseher geschenkt! bedeutet: wir sehen die Werbung (und die Filme zwischen den Werbeblöcken) nun auf einem Bildschirm, der größer ist als ein Briefkasten!
- Die Mücken sind weg…! bedeutet:

Bad News:
- … Der Winter ist da… Es hält sich jedoch noch in Grenzen. Geschneit hat es noch nicht, und die meiste Zeit scheint die Sonne. Aber alle reden vom Winter, als ob er ein Monster wäre. Ich habe Glück: Die kritischen Monate sind Januar und Februar. Aber dann bin ich ja wieder in Deutschland und belächle wahrscheinlich unsere Minusgrade.
- Gestern hat uns eine tragische Nachricht erteilt, die niemand so recht verdauen kann: Der Cheyenne River Sioux Tribe hat dem Cheyenne River Youth Project von heute auf morgen sämtliche vertraglich festgehaltene finanzielle Unterstützung gestrichen. Dies bedeutet einen Verlust von mehreren zehntausend Dollar im Jahr. Ein harter Schlag! Der Stamm stürzt sich seit Jahren in Schulden (ich erinnere: ärmster Landkreis der USA), doch an die Ärmsten und Bedürftigsten des Reservates, nämlich die Kinder, scheint plötzlich niemand mehr zu denken. Auch Indianer können also Verträge brechen. Die Luft im Main ist ganz schön dicke, und die Zukunft für unsere Kinder ungewiss….

Meine Freizeit verbringe ich überwiegend mit Rocky und Co. Während der Woche ziehen wir uns Filme rein, füttern das Mustangfohlen und toben mit den Hunden im Dreck. Wokini ist mittlerweile fast dreimal so groß wie zu dem Zeitpunkt, als ich ihn gefunden habe. Vor zwei Wochen wurde der Arme aus dem Garten gestohlen, und Rocky und ich haben ihn nachts zwei Stunden lang zu Fuß im Reservat gesucht. Am nächsten Tag hat ihn der Dieb – ein Junge, der fast täglich ins Main kommt – dank meiner Detektiv- und Verhandlungsarbeit zurückgebracht.
An den Wochenenden muss man schon kreativ sein. Viele Möglichkeiten gibt es aber nicht, und uns fehlt auch meist die Energie zum großen Einfallsreichtum. Vor einigen Wochen war ich mit Rocky und dem Freund seiner Mutter am Lake Oahe nachtfischen. Ein Traum! Vor uns das Wasser, dessen Wellen den Mondschein widerspiegelten, um uns herum die Nacht und über uns die Sterne (… und in meinen Knochen die Kälte).
Immer wieder ein Highlight im tristen Prärieleben sind die Trips nach Pierre oder Rapid City. Da steigt man aus dem Auto aus und möchte am liebsten lauthals und freudig „Zivilisation“ brüllen (was ich auch schon mitten in einem Einkaufszentrum in Rapid City gemacht habe…). Dort gibt es dann Kinos, Geschäfte (ich meine RICHTIGE Geschäfte) und Bars (bisher nur eine besucht). Ich freue mich schon wie blöd auf das erste November-wochenende, welches ich komplett in Rapid City verbringen werde. Es sind nur drei Tage und zwei Nächte, doch für mich bedeutet dies a whole lot of URLAUB!
Erwähnenswert ist an dieser Stelle noch ein großes nationales Powwow, das neulich in Rapid stattfand. Leute, schaut Euch das Foto unten an! Das sind alles tanzende Indianerschönheiten, hunderte von ihnen! Soviel Farbe habe ich noch nicht einmal auf einem nagelneuen Plasmabildschirm.
Auf dem Powwow habe ich interessanterweise auch Donovin Arleigh Sprague kennen gelernt. Er ist der Autor eines Buches über die Cheyenne River Sioux, das ich mir vor meiner Abreise in Deutschland gekauft habe. Ich hab ihn zugetextet mit Lobeshymnen auf das Buch, und er hat mir stolz Bilder von Verwandten und Freunden darin gezeigt, die direkte Nachkommen von Sitting Bull und Crazy Horse sind.


Soviel zu meinen monotonen Aktivitäten. Aber Ihr wisst ja: Unverhofft kommt oft, vor allem im Reservat! ;-) Also bis demnächst!

Dienstag, 16. Oktober 2007

Stumme Schreie

M. ist 13 und verhält sich wie eine Achtjährige. Sie ist liebenswert, aber anstrengend, da sie ständig Aufmerksamkeit verlangt. Ihr Vater hat sich eine Kugel in den Kopf gejagt, und ihre Mutter hat M. verlassen, als sie gerade mal ein Jahr alt war. Sie lebt seitdem bei ihrer Großmutter.

J. (6) und J. (4) sind Geschwister. Seit ich hier bin, habe ich sie noch kein einziges Wort reden hören.

A. (10) und ihre Halbschwester J. (10) sind vorlaut und aggressiv. A. wird wegen ihrer Vorliebe für Prügeleien von den anderen Kindern gefürchtet. A.’s und J.’s Eltern sind Alkoholiker.

G., (8), sieht nicht vorhandene Männer hinter dir, mit denen sie sich unterhält.

J. (10) und sein Halbbruder H. (8) tragen seit meinem ersten Arbeitstag im Main täglich dieselben Pullover, egal zu welcher Jahreszeit.

M. ist 23 und kommt schon seit frühester Kindheit ins Main. Sie ist damit unser ältester und längster „Stammgast“. M. ist geistig behindert. Man nimmt an, dass sie unter dem fetalen Alkoholsyndrom leidet, eine traurige Folgeerscheinung von mütterlichem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft. Als ich ankam, sprach M. im Durchschnitt vier Sätze, die sie ständig und zu jeder noch so unpassenden Gelegenheit wiederholte. Jetzt erzählt sie manchmal kleine Geschichten und ist in der Lage, Antworten auf Fragen unsererseits zu geben.
Ihre Lieblingsbeschäftigung ist die Anfertigung von Armbändern aus Wolle, und sie schafft es locker, zwei komplette Wollknäuel an einem Nachmittag zu verbrauchen. Zudem schreibt sie unleserliche Briefe an Sasquatch (ein haariges Monster, auch unter dem Namen „Bigfoot“ bekannt), in denen – solange man es entziffern kann – abwechselnd die Wörter „Sasquatch“ und „blacktape“ auftauchen. Gibt man ihr statt Wolle Papier und Buntstifte, malte sie bisher immer das gleiche Motiv: eine schwarze, quadratische Figur, die wahrscheinlich einen Mann darstellen sollte (oder Bigfoot?). Schwarz war stets die einzige Farbe, die sie benutzte. Gestern geschah das Unglaubliche: M. malte rosafarbene Blumen auf einer grünen Wiese und schrieb darüber „Pink Flowers“. Ich habe fast geweint vor Freude.


Diese Kinder kommen alle fast täglich ins Main. Sie alle sind liebenswert und unschuldig. Sie alle sind Opfer.