Dienstag, 16. Oktober 2007

Stumme Schreie

M. ist 13 und verhält sich wie eine Achtjährige. Sie ist liebenswert, aber anstrengend, da sie ständig Aufmerksamkeit verlangt. Ihr Vater hat sich eine Kugel in den Kopf gejagt, und ihre Mutter hat M. verlassen, als sie gerade mal ein Jahr alt war. Sie lebt seitdem bei ihrer Großmutter.

J. (6) und J. (4) sind Geschwister. Seit ich hier bin, habe ich sie noch kein einziges Wort reden hören.

A. (10) und ihre Halbschwester J. (10) sind vorlaut und aggressiv. A. wird wegen ihrer Vorliebe für Prügeleien von den anderen Kindern gefürchtet. A.’s und J.’s Eltern sind Alkoholiker.

G., (8), sieht nicht vorhandene Männer hinter dir, mit denen sie sich unterhält.

J. (10) und sein Halbbruder H. (8) tragen seit meinem ersten Arbeitstag im Main täglich dieselben Pullover, egal zu welcher Jahreszeit.

M. ist 23 und kommt schon seit frühester Kindheit ins Main. Sie ist damit unser ältester und längster „Stammgast“. M. ist geistig behindert. Man nimmt an, dass sie unter dem fetalen Alkoholsyndrom leidet, eine traurige Folgeerscheinung von mütterlichem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft. Als ich ankam, sprach M. im Durchschnitt vier Sätze, die sie ständig und zu jeder noch so unpassenden Gelegenheit wiederholte. Jetzt erzählt sie manchmal kleine Geschichten und ist in der Lage, Antworten auf Fragen unsererseits zu geben.
Ihre Lieblingsbeschäftigung ist die Anfertigung von Armbändern aus Wolle, und sie schafft es locker, zwei komplette Wollknäuel an einem Nachmittag zu verbrauchen. Zudem schreibt sie unleserliche Briefe an Sasquatch (ein haariges Monster, auch unter dem Namen „Bigfoot“ bekannt), in denen – solange man es entziffern kann – abwechselnd die Wörter „Sasquatch“ und „blacktape“ auftauchen. Gibt man ihr statt Wolle Papier und Buntstifte, malte sie bisher immer das gleiche Motiv: eine schwarze, quadratische Figur, die wahrscheinlich einen Mann darstellen sollte (oder Bigfoot?). Schwarz war stets die einzige Farbe, die sie benutzte. Gestern geschah das Unglaubliche: M. malte rosafarbene Blumen auf einer grünen Wiese und schrieb darüber „Pink Flowers“. Ich habe fast geweint vor Freude.


Diese Kinder kommen alle fast täglich ins Main. Sie alle sind liebenswert und unschuldig. Sie alle sind Opfer.




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