Mittwoch, 17. Oktober 2007

Rückblick #2: . . . . z e i t l o s . . . .

Die Hälfte meines Aufenthaltes im Reservat liegt nun hinter mir. Ich kann es kaum glauben. Noch nie in meinem Leben ist die Zeit so schnell vorüber gegangen wie hier. Und dabei lebe ich absolut zeitverpeilt. Ich weiß im Grunde nie, welchen Tag des Monats wir gerade haben. Das ist gefährlich: Denn in Deutschland gibt es immerhin viele liebe Menschen, die zwischen August und Dezember Geburtstag haben! Hinzu kommt die so genannte „Indian Time“: Wenn ein Indianer um 12 Uhr mittags zum Essen einlädt, kann es gut sein, dass um 14 Uhr erst der Tisch gedeckt wird. So läuft es hier ständig: Immer mit der Ruhe, alles mit der Zeit. Trifft man sich also zum Dinner oder Pokern, dann wird dann offiziell begonnen, bis alle eingetroffen sind oder bis alles fertig ist. Und das ist im Grunde nie zur vereinbarten Zeit (wenn überhaupt eine Zeit vereinbart worden ist). Für mich ist das der beste Platz auf Erden, da ich ein Mensch bin, der ständig zu spät ist. Ich liebe die Indian Time! Zum Verhängnis wird es für mich wohl erst, wenn ich wieder nach Hause komme…
Es ist seltsam: Die erste Hälfte kommt mir zurückblickend wie eine Ewigkeit vor. Wenn ich jedoch an meine Rückreise denke, habe ich das Gefühl, dass diese schon sehr bald ist. Kann es eigentlich sein, dass mein erster Rückblick im Blog einen sanften Hauch von Heimweh andeutet? Der ist jedenfalls schneller als der Wind verflogen (was für eine Metapher!), und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Ich fühle mich endlich zu Hause. Das habe ich hauptsächlich Rockys Familie zu verdanken, die mit der Zeit auch meine Familie geworden ist. Ich gehe dort ein und aus und bin nun ein weiteres Familienmitglied der großen Familie. Wir reden schon jetzt von dem nahenden Abschied, der uns allen wahrscheinlich sehr wehtun wird. Rocky Mutter möchte, dass ich bleibe und hier mit ihnen lebe. Wenn mir also in Deutschland eines Tages mal die Decke auf den Kopf fallen sollte, und zwar so richtig, dann weiß ich, wohin ich fliehen kann. Irgendwie ein beruhigender Gedanke.

Auch die Arbeit mit den Kindern ist anders. Ich kenne sie und sie kennen mich, und auf beiden Seiten hat sich großer Respekt aufgebaut, der jedoch schwer erkämpft werden musste. Die „Angst“ vor der Arbeit mit den Kindern (Wird es ein guter Tag? Werden die Kids sich benehmen? Werde ich die Nerven behalten?) ist einer Zuversicht und einem Selbstvertrauen gewichen, das ich mir niemals zugetraut hätte. Ich habe viele Kinder richtig lieben gelernt und freue mich jedes Mal, sie zu sehen. Dennoch ist die Arbeit weiterhin verdammt hart und Kräfte zehrend. Je näher das Wochenende rückt, desto ausgelaugter werde ich. So kommt es, dass ich freitags und samstags zu einem schlürfenden Wasch-lappen mutiere, dessen Lieblingsbeschäftigung darin besteht, alle fünf Minuten auf die Uhr zu schauen. Man ist gereizt und völlig erschöpft und betrachtet die Kinder nicht mehr als Opfer, sondern als kleine Monster, die nur ins Main kommen, um Dich fertig zu machen. Die Anzahl der Kids hat sich zudem während der letzten Wochen auf durchschnittlich 40 Kinder pro Tag verdoppelt. Wir scheinen unseren Job also gut zu machen :-)
Nächste Woche starten wir zusätzlich unser Programm für die Jugendlichen (13 - 18 Jahre) und werden fortan freitags Teen Nights im Teen Center anbieten. Von 16 bis 19 Uhr ist die Turnhalle für den indianischen Volkssport Basketball geöffnet, und anschließend können die Teens sich aussuchen, ob sie auf großer Leinwand einen Film in der Turnhalle anschauen oder lieber im Internet Café Tischtennis und Kicker spielen und im Internet surfen wollen. Ich hoffe, dass viele junge Leute diese Chance nutzen und somit wenigstens einmal pro Woche Gangs, Angst und Langeweile vergessen.

Mittlerweile sind von den ursprünglichen Volontären nur noch Kristina und ich übrig. Anfang September kam Ben, 32, aus London, und Anfang Oktober ein 18-jähriges Mädchen aus Pennsylvania. Wir sind ein tolles Team, ergänzen uns prima und halten uns gegenseitig den Kopf über Wasser. Zudem erweist es sich als absolut praktisch und famos, eine reife, männliche Autoritätsperson im Hause zu haben, die ständig unter Starkstrom steht und zudem regelmäßig für uns kocht und backt.

Happy News:
- Das Heizsystem funktioniert wieder! bedeutet: die Warmduscher müssen zum Duschen nun nicht mehr ins Teen Center! und bedeutet auch: zum Spülen brauch man keine sieben Töpfe Wasser mehr zu kochen, sondern dreht lediglich den Wasserhahn mit dem roten Punkt drauf auf! (Hier lernt man Dinge zu schätzen, die in der Heimat eine Selbstverständlichkeit sind…)
- Da die Gartensaison und somit auch unser täglicher Farmer’s Market vorbei sind, brauchen wir erst um 11 Uhr statt um 10 Uhr anfangen zu arbeiten! bedeutet: mehr Zeit am Morgen! bedeutet: allmorgendlicher Besuch im Fitness Center! bedeutet: Bens anbetungswürdiger Kuchen kann mit gutem Gewissen verzehrt werden!
- Unsere Chefin hat uns einen neuen Fernseher geschenkt! bedeutet: wir sehen die Werbung (und die Filme zwischen den Werbeblöcken) nun auf einem Bildschirm, der größer ist als ein Briefkasten!
- Die Mücken sind weg…! bedeutet:

Bad News:
- … Der Winter ist da… Es hält sich jedoch noch in Grenzen. Geschneit hat es noch nicht, und die meiste Zeit scheint die Sonne. Aber alle reden vom Winter, als ob er ein Monster wäre. Ich habe Glück: Die kritischen Monate sind Januar und Februar. Aber dann bin ich ja wieder in Deutschland und belächle wahrscheinlich unsere Minusgrade.
- Gestern hat uns eine tragische Nachricht erteilt, die niemand so recht verdauen kann: Der Cheyenne River Sioux Tribe hat dem Cheyenne River Youth Project von heute auf morgen sämtliche vertraglich festgehaltene finanzielle Unterstützung gestrichen. Dies bedeutet einen Verlust von mehreren zehntausend Dollar im Jahr. Ein harter Schlag! Der Stamm stürzt sich seit Jahren in Schulden (ich erinnere: ärmster Landkreis der USA), doch an die Ärmsten und Bedürftigsten des Reservates, nämlich die Kinder, scheint plötzlich niemand mehr zu denken. Auch Indianer können also Verträge brechen. Die Luft im Main ist ganz schön dicke, und die Zukunft für unsere Kinder ungewiss….

Meine Freizeit verbringe ich überwiegend mit Rocky und Co. Während der Woche ziehen wir uns Filme rein, füttern das Mustangfohlen und toben mit den Hunden im Dreck. Wokini ist mittlerweile fast dreimal so groß wie zu dem Zeitpunkt, als ich ihn gefunden habe. Vor zwei Wochen wurde der Arme aus dem Garten gestohlen, und Rocky und ich haben ihn nachts zwei Stunden lang zu Fuß im Reservat gesucht. Am nächsten Tag hat ihn der Dieb – ein Junge, der fast täglich ins Main kommt – dank meiner Detektiv- und Verhandlungsarbeit zurückgebracht.
An den Wochenenden muss man schon kreativ sein. Viele Möglichkeiten gibt es aber nicht, und uns fehlt auch meist die Energie zum großen Einfallsreichtum. Vor einigen Wochen war ich mit Rocky und dem Freund seiner Mutter am Lake Oahe nachtfischen. Ein Traum! Vor uns das Wasser, dessen Wellen den Mondschein widerspiegelten, um uns herum die Nacht und über uns die Sterne (… und in meinen Knochen die Kälte).
Immer wieder ein Highlight im tristen Prärieleben sind die Trips nach Pierre oder Rapid City. Da steigt man aus dem Auto aus und möchte am liebsten lauthals und freudig „Zivilisation“ brüllen (was ich auch schon mitten in einem Einkaufszentrum in Rapid City gemacht habe…). Dort gibt es dann Kinos, Geschäfte (ich meine RICHTIGE Geschäfte) und Bars (bisher nur eine besucht). Ich freue mich schon wie blöd auf das erste November-wochenende, welches ich komplett in Rapid City verbringen werde. Es sind nur drei Tage und zwei Nächte, doch für mich bedeutet dies a whole lot of URLAUB!
Erwähnenswert ist an dieser Stelle noch ein großes nationales Powwow, das neulich in Rapid stattfand. Leute, schaut Euch das Foto unten an! Das sind alles tanzende Indianerschönheiten, hunderte von ihnen! Soviel Farbe habe ich noch nicht einmal auf einem nagelneuen Plasmabildschirm.
Auf dem Powwow habe ich interessanterweise auch Donovin Arleigh Sprague kennen gelernt. Er ist der Autor eines Buches über die Cheyenne River Sioux, das ich mir vor meiner Abreise in Deutschland gekauft habe. Ich hab ihn zugetextet mit Lobeshymnen auf das Buch, und er hat mir stolz Bilder von Verwandten und Freunden darin gezeigt, die direkte Nachkommen von Sitting Bull und Crazy Horse sind.


Soviel zu meinen monotonen Aktivitäten. Aber Ihr wisst ja: Unverhofft kommt oft, vor allem im Reservat! ;-) Also bis demnächst!

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Viele gute Nachrichten!! (Inklusive Heizung...)Ich kann ja soooooo nachvollziehen, wie es Dir momentan geht und wie schön es ist, Familienanschluß gefunden zu haben.
Die Indian Time, oh ja... Ich habe gerade heute morgen wieder einen Anschiß abgefaßt, weil ich zu spät kam. Dabei waren es nicht mal fünf Minuten!!! Darüber regt man sich doch echt nicht auf...
Das mit den gestrichenen Geldern ist leider nicht nur eine schlechte Nachricht, sondern eine Katastrophe. Die müssen doch wohl spinnen!! Ich hoffe, Julie kriegt das mit ihren berühmten Überredungskünsten wieder hin. Ansonsten - puuhhh...
Ich schulde Dir noch ne Mail, sorry. Kommt noch...
Viele Grüße
Sabine:-)

Anonym hat gesagt…

Endlich hört man noch mal etwas von Dir liebe Ju, man machte sich ja schon Sorgen!
Der e-mail-Verkehr ist auf Dauer auch nicht wirklich zufriedenstellend, und daß man nicht einfach mal eben anrufen kann ist mehr als gewöhnungsbedürftig (aber ich glaube, für Dich zur Zeit nicht unbedingt negativ ;o))...

Es ist jedes Mal wieder unbeschreiblich, Deine Einträge hier im Blog zu lesen.

Ich drück' Dich aus der Ferne Spatzel ...

Liebe Grüße,
Tanja