Mittwoch, 14. November 2007

Rückblick #3: The last of the Germans

Deutschland, in 5 Wochen hast du mich wieder!

Dieser Gedanke schwirrt mir immer öfter im Kopf herum. Er vermischt sich mit Vorfreude auf Heimat, Familie und Freunde, und dreht mir gleichzeitig den Magen um bei dem Gedanken, meine zweite Heimat, zweite Familie und neuen Freunde zu verlassen. Aber so ist es im Leben: Ein Kommen und Gehen, hallo und auf wiedersehen.
Kristina ist seit zwei Wochen wieder zurück in Deutschland, sodass ich die einzige Deutsche im Main bin. Wir sind nun nur noch zu dritt, und wenn Mandi nächste Woche zurück nach Pennsylvania geht, sind Ben und ich die letzten Freiwilligen hier. Die ängstliche Frage, wie man zu zweit die Horde Kinder unter Kontrolle bringen kann, hat sich dank dem Weihnachtsmann erledigt: Pünktlich zum Adventsbeginn schließt das Main, da zu dieser Zeit die Weihnachtsvorbereitungen beginnen (mehr dazu demnächst).
Die Anzahl der Kinder hat sich im Durchschnitt auf 50 pro Tag erhöht. Ich erinnere mich an diesen einen Samstag, als wir 60 Kinder im Main hatten und anschließend beinahe Amok gelaufen wären. Wenn wir nun 60 Kinder unterhalten müssen, ist es fast schon Routine. Mit der Anzahl der Main-Besucher hat sich auch das Alter der Kids und die Zahl der Zwischenfälle erhöht. Wir haben mehr und mehr Jugendliche, die hier “abhängen”, und mehr und mehr Schlägereien & Co. Die Großen bauen Mist, und die Kleinen machen es ihnen nach, weil sie ebenso cool sein wollen. Normales Verhalten von Kindern und Jugendlichen eben.
Ich muss an dieser Stelle lachen, denn vieles, was mich vor drei Monaten noch zur Verzweiflung getrieben hätte, ist für mich mittlerweile normal. Letzten Samstag habe ich wortwörtlich in die Scheiße gerafft, weil irgendein Kind die lustige Idee hatte, seinen (?) Kot über den kompletten Lichtschalter im Bad und an die gegenüberliegende Wand zu schmieren. Am nächsten Tag wurde die Scheibe über meinem Kopf im Wohnzimmer eingeschlagen, als ich gerade gemütlich auf dem Sofa lag und DVD schaute. Gleich zweimal mussten wir letzte Woche die Polizei rufen, da ein paar Teens urplötzlich ausrasteten und angriffslustig wurden. Ich weiß nicht, ob ihr mich überhaupt noch Ernst nehmt, aber: Ich liebe die Kids und werde sie vermissen!
Seit sechs Wochen läuft unsere “Main University”, zu deren Rektorin ich auserkoren wurde (ich hab’s damit in die lokale Zeitung geschafft): Acht Wochen lang bieten wir täglich von montags bis donnerstags verschiedene Kurse an, die alle Kinder zwischen 4 und 14 Jahren besuchen dürfen. Im Angebot befinden sich: “Tour of the World”, eine Art Geographie-Kurs für die jüngeren Kinder; “Storytelling”, ein Kurs, der mit der Aufführung eines Puppenspiels endet; “Gods and Heroes”, ein Kurs über griechische Mythologie; “Spanish”, Kristinas Spanischkurs, der mit ihrer Abreise leider geendet hat; und “The Main’s Newspaper”, mein Kurs, in dem wir zusammen eine Zeitung gestalten. Ich hätte nie gedacht, dass es so schwer sein wird, die Kinder zu motivieren. Ihre Lesefähigkeit liegt weit unter dem Durchschnitt, und es fällt ihnen wahnsinnig schwer, eine Stunde konzentriert zu arbeiten. Eine gute Herausforderung für eine künftige Lehrerin.
Die Arbeitszeit hat sich auch mal wieder geändert: Das Main schließt nun wegen der Wintermonate und der schwindenen Zahl an Volontären um 19 Uhr statt um 20 Uhr. Zudem werden wir nächste Woche eine Gruppe zu Besuch haben: 16 sechzehnjährige Jungen einer High School, die allesamt in unserer Bibliothek schlafen werden und permanenter Aufsicht bedürfen. Herrje, das wird ein Spaß! (Definition Ironie: Eine Äußerung, die oft das Gegenteil des Gesagten meint.)
Nächste Woche Donnerstag ist Thanksgiving (Erntedankfest), das hier wie Weihnachten gefeiert wird. Im Grunde bedeutet dies: fressen bis der Arzt kommt.
Das Wetter ist typisch süddakotisch (nettes Adjektiv): sonnig, kalt, warm, arschkalt, T-Shirt-warm, windig, stürmig, Warten auf Schnee. Im Durchschnitt hält sich die Temperatur beim Gefrierpunkt. Das Schöne: Es scheint fast immer die Sonne.
Ansonsten gibt’s nicht viel Neues. Mein Notebook ist aus unerklärlichen Gründen kaputt (der Bildschirm ist zerstört, so als ob jemand mit einem Gegenstand auf ihn eingehauen hätte), Wokini wächst und wächst, das Fohlen ist immer noch im Garten (aus zwei Wochen Notunterkunft ist ein Holiday-Inn für verwaiste Mustangfohlen geworden), ich habe momentan meine erste Mehr aktuelle Bilder von Wokini im Fotoalbum #3 saftige Erkältung (weil ich ohne Winterjacke im eisigen Wind zum Dairy Queen gestiefelt bin, um dort ein Eis zu essen...), und ich habe mich Freitag auf der Main Street zum Affen gemacht, als ich dort als eine Kreuzung aus Teletubby und Glücksbärchen verkleidet Spenden gesammelt habe. Als ich zwei Tage später an der Tankstelle im Auto saß, zeigte ein älterer Mann auf mich und sagte zu einem anderen älteren Mann: “Look, there’s the Teletubbie again!

“Only laughter can save us.” (SHERMAN ALEXIE)

7 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Liebe Judith,

Du siehst ganz einfach entzückend und hinreißend aus in diesem Kostüm. Zur Zeit überlege ich ernsthaft, mir dieses Bild als Poster vergrößert an die Wand zu hängen ...

Ich hoffe, dass Du trotz Deines zerstörten Notebooks Deine Emails bekommst und wünsche Dir gute Besserung für Deine Erkältung.

Ach, und bevor ich es vergesse: Ich möchte Dir ganz herzlich für die Begriffsdefinition von "Ironie" danken - Du weißt, ich tue mir recht schwer damit.

Ganz liebe Grüße und einmal drücken,

Tanja

Anonym hat gesagt…

Ach, und noch was:

Die Bilder von Wokini sind der Hammer, die gehen glatt als Postkartenmotive durch. Wirklich einsame Spitze!

Tanja

Anonym hat gesagt…

Ich würde mal eher sagen, dass du aussiehst wie eines der Glücksbärchis!!! Erinnerst du dich noch? Da gibts so ein Rosanes mit zwei Herzen auf dem Bauch. Name??? Das ist doch tausend mal besser als so ein olles Teletubby. Außerdem hast du doch das Selbstbewusstsein dazu ;-))


Dicken Schmatz
Melli

Anonym hat gesagt…

Hey,

ich finde deine Berichte echt immer herrlich zu lesen... Allein die Beschreibung des Wetters hier... wie wahr! ;)
Ehrlichgesagt interessiert mich deine Arbeit im Main ziemlich, ich suche jetzt schon nach einer Gelegenheit um wieder zurueckkommen zu duerfen nach South Dakota. Es ist so herrlich hier und ich beneide dich echt nicht darum, wieder zurueck nach Deutschland zu muessen. ;)

Ist Eagle Butte eigentlich ziemlich, naja... "kriminell"? Ich habe gehoert, dass es dort ziemliche Probleme gibt und es den Leuten nicht gerade bestens geht. Aber wie gesagt, so arg viel habe ich von Eagle Butte noch nicht zu Besicht gekommen und was ich gesehen habe, war nicht unbedingt negativ.

LG, Verena

Ju hat gesagt…

Eagle Butte ist sicherlich kein Ort, in dem man (und besonders frau!) im Dunkeln alleine unterwegs sein sollte. Ich werde diesbezueglich immer wieder von besorgten Freunden hier gewarnt. Dennoch fuehlt man sich sehr sicher hier, solange man die Spielregeln beachtet. Ich selbst habe mich bisher nur einmal wirklich bedroht gefuehlt, als ein Typ mehrmals taeglich zum Main kam und durch die Fenster schielte, weil er Ausschau nach Kristina und mir hielt. Aber jetzt kommt das grosse ABER: Dieser Stalker war kein Bewohner Eagle Buttes, sondern ein Deutscher!! Soviel dazu...

Hier gibt es hauptsaechlich ein Problem, das fuer alle anderen Probleme verantwortlich ist: Armut. Wir befinden uns im aermsten County der USA, und noch dazu in einem Indianerreservat. Die Armut ist verantwortlich fuer Alkoholismus (60 - 80% der Einwohner sind Alkoholiker!!), Verantwortungslosigkeit in den Familien, schlechte Bildung und Gewalt und Missbrauch. Ein Teufelskreis eben.
Viele Leute sagen, dieser Ort sei depressiv. Fuer die Einwohner ist er es bestimmt zum groessten Teil, aber ich muss es einfach zugeben: Ich fuehle mich absolut wohl hier! Vielleicht, weil ich nicht hier gebunden bin und bald wieder in ein geordnetes, wohlhabendes Leben zurueckkehren werde....?

Anonym hat gesagt…

Saugeiles Kostüm, Ju! Hab übrigens gerade erst diese Commentfunktion entdeckt, ich Depp!

Liebe Grüße

Anonym hat gesagt…

Ja, da hast du Recht, Dewey County ist eines der aermsten Counties in den USA. Ich hatte mich eigentlich auch auf mehr Armut gefasst gemacht, aber es scheint da schon starke Unterschiede zu geben. Ich meine, Isabel und Eagle Butte liegen ziemlich nahe beieinander, aber ich kann nicht sagen, dass es in Isabel gefaehrlich ist, nicht das ich wuesste zumindest. Und die Leute scheinen auch nicht so arm zu sein, wie ich es mir vorgestellt hatte. Vor allem aber faellt mir positiv auf, dass die Menschen hier so total freundlich sind und einen echt herzlich willkommen heissen.

Allerdings sind die Lehrer hier ziemlich hinter Gangaktivitaeten hinterher. Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, dass in Isabel irgendwelche Gangs sind. ;)

Ich denke, dass die Situation in Eagle Butte vor allem daran liegt, dass es eben hauptsaechlich Natives sind, die dort leben. Es ist insofern wahrscheinlich "mehr Reservat" als Isabel und dementsprechend schlechter geht es den Leuten dort.